TIME TO NUDGE BACK

Maggie Jabczynski
5 min readDec 17, 2020

Eine subtile Technik, Menschen zu beeinflussen, ist das nudging.
Das Gabler Wirtschaftslexikon definiert:
“”nudging” für “Anstoßen”, “Schubsen” oder “Stupsen”) bewegt man jemanden auf mehr oder weniger subtile Weise dazu, etwas Bestimmtes einmalig oder dauerhaft zu tun oder zu lassen. Dabei können Voreinstellungen und Standards (Defaults) ebenso zum Einsatz kommen wie Produktinformationen und Warenpräsentationen.”

Der Begriff wurde von Wirtschaftswissenschaftler Richard Thaler und Rechtswissenschaftler Cass Sunstein mit ihrem Buch Nudge: Wie man kluge Entscheidungen anstößt geprägt.

Thaler und Sunstein beschreiben in ihrem Buch, wie Verhaltensweisen gefördert werden können, die für den Menschen gut sind. Beispielsweise wird gesundes Essen in den Supermärkten in den Eingangsbereich gelagert. Lidl, Aldi, Kaufland, Edeka, Rewe — in allen Supermärkten, die ich kenne, komme ich beim Eintreten als erstes in die Obst- und Gemüseabteilung. Allein das bringt den Supermarktbesucher dazu, eher zuzugreifen, als wenn er gezielt suchen müsste. Die Organisation von Waren in Kaufhäusern ist der größte Reiz für die Beeinflussung unseres Kaufverhaltens, dem wir uns nicht entziehen können. Wenn wir beispielsweise bei Ikea einkaufen, sind wir gezwungen, durch das ganze Labyrinth ausgestellter Möbel zu gehen, auch wenn wir nur eine Spülbürste kaufen wollen. Eine solche Art des Nudging ist auch eines der Leitprinzipen im Gestalten von Internetseiten, Foren, Apps und Programmen oder Shops. Jeder von uns hat schon mal einen Service im Internet bestellt oder abonniert, um dann festzustellen, dass die Kündigung viel schwieriger ist, als das Abonnement.

Bleiben ist leichter als gehen

Als ich einmal mein Amazon Audible Abo kündigen wollte, musste ich mich durch mehrere besonders gestaltete Seiten klicken. Denn der Kündigungsprozess ist mehrstufig. Der Aufbau der Informationen und auch emotionalen Reize macht den Kündigungsprozess zu einem Spießrutenlauf für meine Willensstärke. Bei jedem Schritt auf der Kündigungswebseite kommen mir Argumente entgegen, es nicht zu tun. Der Trick, zu fragen, warum ich kündigen möchte, dient nicht etwa einer persönlichen Beziehung. Ich wähle hier nur aus, wie das Unternehmen, mich doch wieder einfangen könnte bei meinem Versuch auszubrechen. Ich habe auf die Begründung geklickt, das Abo sei zu teuer, nicht weil es zuträfe, sondern weil ich zu faul war, alle zu lesen. Gut für mich, denn so sprachen mich die 3 daraufhin angebotenen Optionen nicht an. Es sieht aus, als hätte ich jetzt die Wahl zwischen einer 50%-igen Vergünstigung auf das Abo für 3 Monate, eine Abo-Pause oder ein extra Guthaben für ein Audiobook. Normalerweise kann man ein Audiobook pro Monat in dem Abo erwerben, das monatlich ca. 10 Euro gekostet hat damals. Ich habe neben der Vergünstigung und der Pause, die Wahl ein Audiobook geschenkt zu bekommen. Die Wahl der Alternativen soll mich vergessen lassen, dass ich eigntlich ganz weg wollte. Es ist, als hätte Amazon selbst an der Stelle nicht mitbekommen, dass es mir vorher einen Button, oder zumindest einen hässlichen angeboten hatte, auf dem dem “Abo kündigen” draufstand.

Framing von Feinsten

Ganz so, als hätte mich jemand mit einem Versprechen in seinen Laden gelockt. Nur dass er dann, sobald ich den Laden betrete, so tut, als sei davon nie die Rede gewesen. Wir alle sind kommunikativ anpassungsfähig. Wenn jemand etwas behauptet, glauben wir das gerne, wenn es dem entgegen kommt, was wir wollen. Wenn wir aber dann kognitiv so beansprucht sind, Informationen abzugleichen, die in dem Moment ganz anders sind, als das, was wir erwarten, halten wir das nicht lange aus. Es ist eine Strategie, uns in einen Dialog hineinzuziehen, den wir mit dem Entschluss zu kündigen bereits logisch ausschließen können. Weil es aber unlogisch ist, dass nun doch Optionen aufkommen, setzt auch das einen kognitiven Prozess in mir in Gang, der mich beschäftigt. Ich frage mich, ob ich hier falsch bin. Offenbar nicht ganz, denn diese Optionen haben auch mit meinem Wunsch nach der Kündigung zu tun. Die einzige Möglichkeit, den logischen Widerspruch in meinem Kopf aufzulösen, ist die Optionen zu lesen und mit dem, was ich noch als Absicht habe, abzugleichen. Kein Wunder, dass es vielen nicht so leicht gelingt, so ein Abo endgültig zu kündigen.
Es erscheint mir jetzt genauso absurd, als wenn ich am Telefon eine Hotelreservierung stornieren würde und der Rezeptionist mich fragt, wann ich denn Einchecken wollte. Würde eine Person das mit mir machen, was Amazon und ähnliche Abo-Services machen, würde ich sofort das Weite suchen und mich gar nicht auf diese Person einlassen. Das wäre Handeln nach freiem Willen. Davon kann jedoch auf solchen Seiten nicht die Rede sein, denn der freie Wille wurde lahmgelegt von zu vielen Informationen, die ich zu verarbeiten hatte. Da fühlt sich der Klick auf den am besten sichtbaren Button an, als hätte ich es geschafft, zu kündigen. Nur, dass ich es nicht geschafft habe. Ich kam nicht mehr zum hören und kaufte keine Bücher mehr. Löst man sein monatliches Guthaben nicht ein, akkumulieren sich die Guthaben. Wenn man kündigt, verliert man alle. Das ist ein weiterer Schmerz, den ich gerne gemieden habe. Ich hatte nun nicht nur die nicht genutzten Guthaben, sondern auch die, die ich nach meinem Kündigungsversuch bereits einmal gecshenkt bekommen hatte. Natürlich habe ich alle potenziell gerade interesanten Audiobooks gekauft, die gelesen und noch immer Guthaben übrig gehabt. Auch das ist ein raffinierter Trick, ein Angriff auf meine Psyche, den ich aus Casinos kenne.

Ich erliege hier dem Fehlschluss, dem auch Anleger oder Spieler erliegen: das Eingestehen des Verlustes erfordert so viel mentale Stärke, dass ich nicht loslassen kann und dadurch im laufenen Abo noch mehr Geld verliere. Schließlich ist es nicht unmöglich, dachte ich, dass ich zum Ketten-Audiobook-Hörer werde und wieder voll einsteige. Daran halte ich mich fest, damit mein Handeln für mich Sinn ergibt. Da verschwimmt die Grenze zur Willensfreiheit und meine rationale Denkfähigkeit ist auch nur so stark wie meine mentale und emotionale Stärke.

Ich habe damals 5 Guthaben verfallen lassen und bin überzeugt, dass das noch eine gute Zahl ist. Mehrere Audiobook-Leichen liegen in meiner Audible App, die ich nach dieser Kündigungserfahrung nicht wieder genutzt habe.

Am Ende hatte ich Audiobooks gekauft, zu denen ich nach Jahren nie gekommen bin. Fünf Guthaben habe ich verfallen lassen, weil ich so lange die mentale Kraft nicht gefunden habe bzw. bei Kündigungsversuchen, noch ein Audiobook geschenkt bekommen hatte.

Es sollte niemals notwendig sein, die Gründe für den Wunsch einer Abokündigung angeben zu müssen, um fortzufahren. Ich bin davon überzeugt, dass ich mit einem leichteren Kündigungsprozess vielleicht wieder zum Abo zurückgekehrt wäre, als zufriedene Kundin. Aber diese Freiheit wurde weggenudgt.

Heute nahm ich an einem UX Designer Buchclub teil. Wir haben Ruined by Design von Mike Monteiro besprochen. Für die Manipulatoren, Nudger und Verführer hat das letzte Stündlein geschlagen. Wir nugden jetzt zurück. Wait for it.

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Maggie Jabczynski

I am a Linguist with a background in Anthropology & Ethics, working as a Conversation Designer